
Das Video zu meinem Vortrag "Reaktionäre Avantgarde", gehalten im Rahmen der Karlsruher Konferenz "Carl Einstein Re-Visited. Zur Aktualität seiner Sprache, Prosa und Kunstkritik", in dem ich Schnittmengen zwischen Carl Einstein und Hans Sedlmayr auslote, ist nun online und ↘︎ hier abrufbar.
Dem Anschein nach gibt es mit Carl Einstein, dem jüdischen Intellektuellen, der auf der Flucht vor den Nazis den Freitod wählte, und Hans Sedlmayr, einem Befürworter des NS-Staates, kaum konträrere Positionen die einander gegenübergestellt werden könnten. Was der eine kanonisiert hatte, dämonisierte der andere. Dennoch offenbaren beide Werke Schnittmengen, die von Theorie-Importen, wie aus der Gestaltpsychologie bis hin zu motivischen und stilistischen Ähnlichkeiten reichen. Während Einsteins ‚gestaltetes Sehen’ dem Kunstwerk eine autonome Existenzsphäre zusichert, dient es bei Sedlmayr als Analysetool, um dem Werk in seiner ursprünglichen Bedeutung beizukommen. Dabei ist der Diskurs um die Gestalttheorie im Sinne einer diskursiven Praxis in den 1910er- und 20er-Jahren so weit verzweigt, dass die individuellen Ausformungen schwer rekonstruierbar sind. Das zeigt sich schon am Begriff des ‚gestalteten Sehens‘, der von der Kunsttheorie über die psychologische Forschung zurück in die Kunsttheorie geschleust wird. Gestalttheorie ist daneben ein Paradebeispiel für das Reaktionäre im Avantgardistischen wie vice versa. Seit ihrer Erfindung trägt die Gestalttheorie einen normativen Ästhetizismus in sich, der sich insbesondere bei Sedlmayr und Einstein unterschiedlich intensiv artikuliert. Unter ihrem Einfluss wird Sedlmayrs Kunstgeschichte zunehmend zu einer allgemeinen Kritik und nähert sich damit in „Verlust der Mitte“ nicht zuletzt Einsteins Werk an.
Die Moderne im Besonderen betreffend, hat man es mit unabhängig voneinander funktionierenden Historiografien zu tun. Zu differenzieren ist die universitäre Geschichtsschreibung von der musealen und einer dritten, die durch die Kritiker bzw. Kunstliteraten und Kunstschriftsteller vorangetrieben wurde. Letztere stellt ein durch die Fachgeschichte besonders vernachlässigtes Feld dar. Hier setzt der Vortrag an, um zu zeigen, dass die zeitgenössische Kunstkritik die Kunsthistoriografie durchaus beeinflusst hat.
Kommentar schreiben